Life is Strange 2 ist anders und nicht nur weil es sich diesmal um zwei Protagonisten und ein ganz anderes Setting handelt...
Es war absehbar, dass ich mir nach Life is Strange 1 (und Before the Storm) irgendwann auch LiS 2 vornehmen werde. Was mich an LiS 2 lange überrascht hat, ist wie wenig ich von diesem Spiel zu hören bekommen habe. Wann, dann war fast immer lobend die Rede von LiS 1. Empfohlen wurde mir LiS 1 auch einst wegen der Zeitreise-Mechanik und der Murder-Mystery-Thematik.
Ich wusste also nicht allzu viel von diesem Spiel und seiner Story, außer, dass es anders sein soll als LiS 1. Das ist erfrischend, aber auch etwas schwierig zu verdauen, wenn man nun gerade jene Elemente vermisst, die man an LiS 1 zu schätzen wusste. So ähnlich wie sich die beiden Spiele anfangs oberflächlich zu sein scheinen (Teenager mit Teenager-Problemen), so unterschiedlich werden sie. Bei Max und Chloes Geschichte hatte ich nie das Gefühl, dass ich ihre Entscheidungen nicht nachvollziehen konnte. LiS 1 bleibt aber etwas stationärer an der Blackwell Academy und in Arcadia Bay verwurzelt, während uns LiS 2 auf einen unbehaglichen Road Trip durch die USA schickt. LiS 2 stammt aus dem Jahr 2018 und nimmt sich eine Vielzahl von politischen und gesellschaftlichen Problemen der USA vor, sodass man den Road Trip nicht nur als physische Reise verstehen kann.
Was in LiS die Rewind-Mechanik war ist in LiS 2 die Telekinese von Daniel Diaz. Diese Fähigkeit beginnt man jedoch erst in der zweiten Episode zu entwickeln und sie ist, wie auch die Entscheidungen Seans, etwas, das von Daniel abhängig ist. In LiS 1 hatte man meinem Eindruck nach mehr direkte Kontrolle über die Auswirkung seiner Entscheidungen, Max war die wirkliche Protagonistin. In LiS 2 ist Sean zwar der Charakter den man steuert, aber er beeinflusst die im späteren Verlauf auftretenden Schlüsselmomente eher indirekt - indem er ein Vorbild für Daniel ist, der sich an den Handlungen seines großen Bruders orientiert. Die Interaktionen mit Daniel prägen diesen und wenn man dieses Konzept auf andere Spiele ummünzt, dann ist hier ganz der Gefährte der eigentliche Star der Geschichte. LiS 2 ist mehr oder weniger eine Geschichte in der Clark Kent einen älteren Bruder hat und mit diesem quer durch die USA flüchtet. Allerdings hat Daniel "nur" Telekinese als Superkraft und nicht auch die Fähigkeiten zu fliegen oder unverwundbar zu werden. Im Gegenteil, Daniel ist als 9jähriger sehr verwundbar und macht seinem großen Bruder dadurch auch einige Sorgen. Daniels Telekinese ist zwar eine übernatürliche Stärke, aber sie kann auch keine Kugeln abwehren. So gesehen ist LiS 2 keine jener Geschichten bei der ein Happy End garantiert scheint, selbst wenn sich jemand der "dunklen Seite" zuwenden sollte.
Wie man damit zufrieden ist, dass man kein Protagonisten-Held im klassischen Sinne ist, wird wahrscheinlich auch stark beeinflussen wie sehr man mit dem Spiel zufrieden ist. Sean darf im Spielverlauf durchaus sein Leben leben, aber er ist nun einmal an seinen Bruder gebunden und muss als der ältere und schuldfähige auch mit den Konsequenzen leben. Da drängt sich mir der Spruch "Eltern haften für ihre Kinder" auf. Genauso muss man wohl auch Seans überstürzte Flucht am Anfang des Spiels sehen. Sean selbst ist zwar unschuldig, aber nachdem Daniel ungewollt einen Polizisten ermordet hat muss er die Verantwortung für ihn tragen. So wie sich die Lage in den USA zugespitzt hat wäre es nicht unvorstellbar, dass rabiate Cops selbst einem Kind etwas antun würden, sollte dieses im Verdacht stehen ein Copkiller zu sein. In dieser Hinsicht ist LiS 2 wohl aktueller denn je geworden, ohne sich allerdings vorwiegend dieses Themas angenommen zu haben. Polizeibrutalität in den USA und ihre Auswirkungen auf marginalisierte Gruppen und Minderheiten sind nur eines der Themen, die LiS 2 aufgreift. Man merkt durchaus, dass LiS 2 im Jahr 2023 nicht mehr ganz aktuell ist - etwa hinsichtlich der Legalisierung von Marihuana in Kalifornien.
Rassismus und Fremdenfeindlichkeit sind etwas, das die Diaz-Brüder auf ihrer gesamten Reise begleiten, von Ladenbesitzern die sie wegen ihrer Hautfarbe für potentielle Diebe halten, bis hin zu Selbstjustizlern, die an der Mauer an der Grenze zu Mexiko praktisch Jagd auf illegale Einwanderer machen. Sean und Daniel sind jedoch nicht die einzigen, die mit Vorurteilen und Gewalt konfrontiert werden, wie sich in Episode 2 und vor allem Episode 3 heraus stellt. Religiöse Kulte, Konversionstherapien, Gewalt gegen die eigene Familie und organisierte Kriminalität sind etwas, das auch in Life is Strange 2 untergekommen ist. Im Gegensatz zu LiS 1 ist das Sequel regelrecht vollgestopft mit brisanten Gesellschaftsproblemen und familiären Konflikten. Man könnte fast meinen es ist schon etwas zuviel, dass da verarbeitet wurde. LiS 2 schafft es aber zumindest noch keine Charaktere mit negativen Eigenschaften zu überfrachten, womit man von wandelnden Klischees verschont wird, selbst wenn so mancher "rechter Schläger" sich allein auf dieses Charaktermerkmal reduzieren lässt. Für manche Geschmäcker könnte das aber schon zuviel an simpler Charakterzeichnung sein und auch der Plot an sich hat etwas das sich durchaus auch kritischer beäugen ließe, nämlich, dass es zeitweise vorhersehbar wirkt, dass die beiden Brüder vor dem Ende keine neue Heimat finden werden. Jedes der ersten 4 Kapitel MUSS also damit enden, dass die beiden ihr neu gefundenes Zuhause wieder verlieren. Das gibt dem Spiel durchaus eine gewisse Dramatik, denn man weiß, das nächste Unglück lauert schon darauf über die Geschwister herzufallen, aber man ist nicht ganz so überrascht, wenn es dann tatsächlich passiert.
Etwas das LiS 2 auch besonders macht, ist die Integreation des Spinoffs/Prequels The Adventures of Captain Spirit, welches in Episode 2 eine große Rolle spielt, da man dort auf Chris trifft. Ebenso werden die Ereignisse aus LiS 1 mit der Rückkehr von David Madsen noch thematisiert, allerdings primär wie man sich am Ende entschieden hat. Was für mich eine große Rolle bei storylastigen Spielen einnimmt ist natürlich die Frage, ob sich ein weiterer Playthrough lohnen würde. Im Fall von LiS 2 hängt das davon ab, ob und wie viele der Enden man sehen will. In LiS 1 war das Ende relativ "einfach", entweder man entscheidet sich für Chloe und opfert damit ganz Arcadia Bay oder man opfert Chloe und das Städtchen überlebt. Auch das Ende von LiS 2 könnte man sich ähnlich vorstellen, aber es hat gerade wegen der Gefährten-Dynamik mit Daniel einige Varianten. Sich für A oder B zu entscheiden wird am Ende also nicht immer zum gleichen Epilog führen, ohne zuviel zu verraten.
Neben den dunklen Seiten des modernen Amerika hat LiS 2 aber auch den einen oder anderen Lichtblick zu bieten, wenn man etwa den bereits erwähnten David wieder trifft. Davids Transformation seit LiS 1 wirkt auf den ersten Blick erstaunlich und ist doch genau das, was Joyce Pryce wohl schon immer in ihm gesehen hat. Und damit meine ich nicht seinen neuen Haarschnitt, sondern seine hart erarbeitete Menschlichkeit. David ist nun mehr jene Vater-Figur, die er in LiS 1 noch nicht sein konnte. Es sind solche Momente, in denen LiS 2 uns als Spieler auch dafür belohnt, das ganze Drama und die herben Enttäuschungen der Diaz-Brüder auf uns genommen zu haben. Ansonsten wäre LiS 2 etwas zu sehr wie die klassischen Staffeln von Game of Thrones, kaum findet jemand etwas Glück im Leben, wird es auch schon zerstört. LiS 2 fährt seine Schockmomente gegen Ende hin gefühlt etwas zurück, was mir aber abseits des Epilogs gefehlt hat, waren schon frühere Auswirkungen meiner Entscheidungen. Was aus Chris in Beaver Creek wurde erfährt man etwa nur aus einem Brief und später einer kurzen Szene im Abspann. Natürlich, man musste wegen des verzweigten Narrativs einiges unters Dach bringen, aber mich beschleicht bei manchen Pfaden das Gefühl, man hätte hier mehr zeigen können, hätte man das Spiel nicht so thematisch überfrachtet. Für mich gibt da Episode 4 mit dem religiösen Kult das beste Beispiel ab, denn die Geschichte erfüllt zwar vor dem Finale noch einen Zweck (Sean und Daniel werden getrennt, Seans bisherige Entscheidungen werden auf die Prüfung gestellt), aber dass man sich auch noch mit wissenschaftsfeindlichen und teils auch gewaltbereiten religiösen Fanatikern beschäftigt wirkt für mich so, als wollte manin LiS 2 etwas zu weitschweifig mit der US-Gesellschaft abrechnen. Wir haben im gleichen Kapitel schon zwei random Hillbillies, die Sean zusammenschlagen, nur weil er in der Wüste, nachts sein Auto auf ihrem "Feld" am Straßenrand geparkt hat. Der ältere der beiden ist dabei genauso gewaltbereit wie der holzschnitzende Ehegatte der Tankstellen-Besitzerin in Episode 1, hat aber deutlich weniger Backstory. Zugegeben mir sind aus ländlichen Gegenden meiner Heimat auch Personen bekannt, die ähnlich verärgert über Teenager oder "Ortsfremde" herfallen würden, wenn diese auf einem ihrer Waldwege parken würden - allerdings ohne diesen auch physisch an den Kragen zu gehen. Die Wurzeln dieser Aggressionen und den dazugehörigen konservativen Hintergrund zu erforschen ist jedoch etwas, das LiS 2 nicht kann. Wir erleben die Geschichte nun einmal durch die Augen von Sean Diaz und dieser ist für gewöhnlich auf der Flucht, weshalb er gar nicht die Zeit und Kapazitäten hat zu ergründen, warum Amerikas Vertreter einer WASP-Einheitskultur den "Mexikanern" gegenüber so feindlich gesinnt sind. LiS 2 zeigt uns viele Einzelschicksale und thematisiert damit größere Problematiken, ohne diese jedoch hinter dem Vorhang hervorzuzerren. Und zu diesen gesellt sich in Episode 4 auch noch eine radikale Christengemeinde, die Nächstenliebe und offene Türen predigt, aber vor Sean schließlich vor die Tür setzt und damit bedroht, dass das Kirchengelände Privateigentum ist und entsprechend "verteidigt" werden kann.
Für meinen Geschmack ist Episode 4 ein zu großer Bruch mit dem bisherigen Narrativ. Aber vielleicht ist das auch Geschmackssache, sollte man sich seit Episode 1 eine Auseinandersetzung mit religiösen Fanatikern gewünscht haben. Episode 4 ist praktisch Seans Waco. Da ließe sich viel damit anstellen, aber auch hier bleibt LiS 2 auf seine primäre Mission konzentriert - Sean will Daniel aus dem Kult befreien und er hat nur Karen und Jacob als Verbündete. Dass Jacob Daniel an den Kult ausgeliefert hat ist auch so eine Entscheidung mit der man vielleicht nicht ganz zufrieden sein kann, ähnlich wie Seans Bereitschaft nach den Ereignissen in Seattle praktisch in Richtung Mexiko zu flüchten - mit einem 9jährigen im Schlepptau, der rein rechtlich gar nicht belangt werden könnte. Bei Sean ist es noch so, dass er Daniel als seine Verantwortung sieht und damit stärker an ihm hängt, als umgekehrt. Auch das Gameplay selbst reflektiert ja, dass man zwar als Sean spielt, aber Daniel eigentlich der wichtigere Charakter ist. LiS 2 ist aber nicht bloß eine überlange Eskort-Mission, sondern eine Origin-Story für den "Superwolf" Daniel. Dieser Aspekt des Spiels ist definitiv etwas, das ich sehr interessant finde, aber auch nicht zu einem Must-Have für andere RPGs erklären möchte. Was in LiS 2 funktioniert, kann auch nicht überall funktionieren. Daniel aus den Klauen des Kults zu befreien bringt die Brüder zwar in Kontakt mit ihrer Mutter Karen, aber muss auch auf den Hintergrundcharakter Jacob aus der letzten Episode zurückgreifen. Jacob stach in meinen Augen durch nichts heraus und mit dem Ende der vorherigen Episode verschwinden eine Menge interessanter(er) Nebencharaktere aus der Story, ähnlich wie Chris nach Episode 2. Man hätte meiner Meinung nach die Geschichte anders fortsetzen können, nämlich mit einer direkteren Verknüpfung zu Episode 3. Stattdessen muss Sean aus einem Krankenhaus in Kalifornien fliehen und sich bis nach Nevada durchschlagen - ein optisch auffälliger Szenenwechsel, doch auch Episode 5 wird dann in der Wüste angesiedelt sein, die Titelbilder zu LiS 2 suggerieren aber meistens Wald und spielen auf das Paar der Wolfbrüder an. Ich frage mich auch ungewollt, wie Seans unreligiöse Einstellung und Erziehung von einem US-Publikum aufgenommen wurde, das sich vielleicht noch mit seinen Familienwerten identifizieren kann, seine "Verbrechen" dann aber einer mangelhaften moralischen Erziehung fern von Jesus Christus anlasten würde (so ordnet man sein Weltbild womöglich in christusnahe und christusferne Schichten).
LiS 2 wurde immer noch von Dontnod Entertainment entwickelt, es ist aber auch das bisher letzte Life is Strange des französischen Entwicklers, denn Publisher Square Enix scheint die Zukunft von Life is Strange stattdessen in die Hände des amerikanischen Studios Deck Nine gegeben zu haben. Dieses entwickelte zuvor (das aus meiner Sicht eher vergessenswerte Prequel) Life is Strange: Before the Storm und übernahm die Aufgabe die Life is Strange Remastered Collection (Before the Storm + das originale Life is Strange) zu entwickeln. Und so durfte Deck Nine auch Life is Strange (3): True Colors entwickeln. Laut Interviews mit Dontnod bzw. Don't Nod Entertainment (wie man sich neuerdings nennt) scheint Square Enix an Deck Nine festhalten zu wollen. So nebenbei haben Ruhm und Erfolg von Life is Strange vielleicht auch dazu beigetragen, dass Deck Nine mit der Entwicklung von The Expanse: A Telltale Story beauftragt wurde. Warum ich das erwähne, weil LiS: Before the Storm für mich nicht sonderlich gut mit LiS abgestimmt wirkte. In meinen Augen ist es erkennbar, dass dieses Prequel von jemand anderem geschrieben und entwickelt wurde, wobei ich auch die Anmerkung bestätigen würde, dass das später entwickelte Prequel komischerweise sogar grafisch etwas rückschrittlicher wirkt. Die Zukunft des Franchise ist also in fremden Händen und mir scheint, diese haben einen anderen Zugang. LiS 2 hat aber noch vieles, was auch in LiS 1 am Rande auftauchte, wie Piraten, Züge, das Streben nach Freiheit, adoptierte Streuner und Wohnwägen. Life is Strange 2 ist noch ein "echtes" Life is Strange und fühlt sich so an, auch wenn es eben anders ist als Life is Strange 1. Alles in allem war es ein interessanter Ausflug, aber ich werde mich wohl bis zu einem Life is Strange: True Colors Playthrough fragen, ob Deck Nine als das andere Studio auch den LiS-Vibe aufgreifen konnte. Nach Before the Storm bin ich jedenfalls sehr skeptisch.