Keine Kandidaten für ein Spiel des Jahres und eine wohl eher lange Erklärung, warum und wie ich überhaupt auf diese Spiele gestoßen bin...
Schuld sind die Corona-Lockdowns, wenn man das so einfach sagen kann. Während des allerersten Lockdowns 2020 bin ich, wie wohl viele andere, rasend schnell durch meine To-Watch-List auf Netflix, Amazon Prime und Disney+ gerattert, bis ich an dem Punkt angelangt war, dass ich mir tatsächlich Empfehlungen geholt habe. Da fiel dann der Name Steins;Gate als Empfehlung für ein Zeitreise-Drama und wäre die Serie in deutscher Synchro damals nicht kostenlos auf Prime verfügbar gewesen, dann wäre ich wohl nie in das ScienceAdventure-Franchise (kurz SciADV) gestolpert.
Steins;Gate bildet eine in sich geschlossene Story, hat aber auch eine Art Fortsetzung in der Form von Steins;Gate 0 und ja die Geschichte von Steinsgate hat zumindest von meiner Warte aus vor allem durch den Anime an internationaler Popularität gewonnen, meine Empfehlung stammte immerhin auch von einem der Anime-Kenner, der mit dem Rest des Franchise wenig am Hut hatte. Steins;Gate war der erste Anime den ich seit meiner Schulzeit und Dragonball Z gesehen habe, insofern erschloss sich mir so auch ein Medium, das ich bis dahin eher ignoriert hatte (womit ich mich dann in den weiteren Lockdowns beschäftigt habe ist eine Geschichte, die ich vielleicht auch noch einmal erzählen werde).
Die Science Adventure-Reihe ist jedoch eigentlich eine Reihe von Visual Novels, die erst im Nachhinein Anime-Adaptionen erhalten haben, meinem Verständnis nach um die Verkaufszahlen, Popularität und Merchandising-Werte zu steigern. Rein vom Format her hat man es bei einer Visual Novel wie Chäos;Head oder Chäos;Child mit rund 30 Stunden an Story zu tun, ohne nennenswertes Gameplay wie man es aus RPGs kennt. Auch Visual Novels waren für mich ein ziemlich unergründetes Erzähl-Medium. Branching Narratives mit verschiedenen Enden und eigenen Story-Arcs für die Wegbegleiter sind jedoch etwas das mir zumindest aus so manchem story-lastigen RPG bekannt sein sollte. Insofern sehe ich Visual Novels auch als eine stark "entschlackte" Form von RPGs, man spielt immer noch eine Art Rollenspiel, aber kann sich einzig und allein auf die Story konzentrieren, von der unterm Strich dann immer noch zig Stunden übrig bleiben, auch ganz ohne nervtötende Fetch Quests.
Interessantes Konzept - aber wie ist die Umsetzung? Während meiner Teenager-Jahre hatte ich einmal den Traum Programmierer zu werden und ich habe damals auch eine entsprechende Ausbildung angefangen und erfolgreich abgebrochen, wobei mich die Idee ein Spiel zu programmieren immer interessiert hat. Seinerzeit hätte ich jedoch nie daran gedacht, dass es so etwas wie Visual Novels überhaupt gibt und dass sich das ganze tatsächlich auch noch verkaufen und Fans finden kann. Hätte ich die Möglichkeit zu Zeitreisen wie in Steins;Gate würde ich wohl versuchen, meinem 20 Jahre jüngeren Ich einzureden sich an diesem Medium zu versuchen. Die Science Adventures sind natürlich sehr japanisch und das mag für westliche Geschmäcker etwas verstörend wirken. Mich haben die diversen eher unvorteilhaften Klischees zugegebenermaßen ja auch jahrelang davon abgehalten mich eingehender mit japanischen Spielen oder Serien zu beschäftigen. Visual Novels und Anime sind jedoch mehr als nur Teenager in Schuluniformen oder Fantasy-Charaktere mit ausgefallenen Frisuren und ungewöhnlichen Namen. Zugegenbermaßen, manchmal muss man jedoch etwas schürfen, um durch die oberflächliche Schicht der visuellen Darstellungen durchzukommen. Es lohnt sich im Kopf zu behalten, dass japanische Medien für gewöhnlich auch zuerst für den japanischen Markt geschaffen werden und so nebenbei ist das Land, doch etwas isolierter und weiter von uns entfernt, als einem manchmal bewusst ist. Man vergisst das auch gerne, denn technisch und teils auch architektonisch ist das moderne Japan unserer europäisch-amerikanischen Welt ja nicht unähnlich. Lässt man sich auf Geschichten wie die Science Adventures ein, begibt man sich auch nicht bloß in die japanische Mainstream-Kultur, sondern driftet durchaus in einige Nischen ab.
Womit wir bei einem Thema sind, was gerade die Chäos;World-Duologie in den letzten Jahren interessant gemacht hat - die beiden Protagonisten Takuru Miyashiro (Chäos;Child) und vor allem Takumi Nishijou (Chäos;Head) sind Hikikomori, ein Phänomen das man bei uns eher als soziale Einsiedler umschreiben würde. Sitzt man eines Tages alleine in einem Lockdown fest, findet man sich ja in einer zumindest in den Ansätzen ähnlichen Situation wieder. Hikkikomori reduzieren ihre Schulbesuche und soziale Kontakte auf das Notwendigste und werden nach Ende der Schulpflicht gerne als NEETs (Not in Education, Employment or Training) bezeichnet. In der japanischen Leistungsgesellschaft nimmt man Personen, die "nichts zur Gesellschaft beitragen" auch anders war, weil Japan wie viele andere asiatische Länder eher kollektivistischen Ideen anhängt. Für einen europäischen Individualisten ist es schon eher okay, wenn jemand keiner regulären Arbeit nachgeht. Das Problem mit den Hikikomori hat oft auch mit Mobbing und Konformitätsdruck im Schulsystem, was in unseren Breiten ja auch nicht soviel anders ist. In einer Welt wo von einem erwartet wird nahtlos von der Schuluniform ins Kostüm eines salary man oder einer office lady zu wechseln kann einem die Welt aber durchaus weniger freier, trostloser und sehr beengend vorkommen, so als könnte man seinem Trauma aus Schulzeiten überhaupt nicht entkommen. Kommt dann noch hinzu, dass Selbstmord als ehrenvoller Ausweg aus der "Nutzlosigkeit" dargestellt oder gesehen wird, dann hat man als Gesellschaft durchaus ein Problem. Aber vielleicht mache ich es hier mit meiner Einschätzung auch viel zu einfach, ich fühle jedenfalls mit den Protagonisten, die ihren Teenager-Problemen in der Isolation entkommen wollten.
Chäos;Child als Sequel zu Chäos;Head war übrigens lange Zeit als einziges der beiden Spiele auf Steam verfügbar. Chäos;Head hatte als erster Teil der Science Adventures (sogar noch vor Steins;Gate) sogar das Pech lange Zeit scheinbar überhaupt nicht im Westen (aka zumindest auf Englisch und auf europäischen oder amerikanischen Plattformen wie Steam) verfügbar gewesen zu sein. Es dauerte bis 2022 ehe Chäos;Head für die Nintendo Switch und Steam angekündigt wurden, mit englischer Text-Ausgabe (gesprochen wird in den Visual Novels immer noch japanisch). Der Launch von Chäos;Head und damit die Vervollständigung des Science Adventure-Franchises auf Steam scheiterte jedoch zeitweise an irgendwelchen Steam-Zensoren, die zwar kein Problem damit haben Sex-Simulationen für Steam abzusegnen, sich aber an einem Mystery-Horror-Drama mit Teenagern stören. Es brauchte schon eine Unterschriftenkampagne und wohl eine Intervention von Seiten des Publishers Spike Chunsoft, damit Chäos;Head 2022 auf Steam erscheinen konnte. Ich habe es mir übrigens auf Steam gekauft, aber zurück zu etwas, das die Geschichte vielleicht etwas persönlicher macht. Als ich anfang 2022 wieder einmal Lockdown-bedingt auf der Suche nach Unterhaltung war, habe ich mir nach reichlich Recherche angesehen, was ich mir von den Science Adventures tatsächlich als Visual Novel ansehen/anhören/durchlesen möchte. Da Chäos;Head damals noch nicht verfügbar war, fiel meine Wahl auf Chäos;Child, das mir den augenscheinlich bodenständigsten Plot versprach. Ja, wir reden hier von einem Spiel in dem Mädchen in Schuluniformen scheinbar mit massiven unrealistischen Schwertern auf dem Cover zu sehen sind. Ich hatte da auch so meine Bedenken, aber ich dachte mir, vielleicht ist das ganze ja so eine Art Heavy Metal Style-Cover?
Mit dem Sequel anzufangen stellt natürlich eine gewisse Herausforderung dar, denn so manche Plotpunkte aus Teil 1 kennt man gar nicht. Um das etwas auszugleichen, habe ich mir dann die Anime-Adaption von Chäos;Head gesucht und mich nicht von bösen Kritiken abschrecken lassen. Am Ende kann ich sagen, ja, der Anime hat mir geholfen einiges zu verstehen, was in Chäos;Child passiert, aber weniger als ich mir erhofft hätte. Es wäre vielleicht sogar ein spaßigeres Erlebnis gewesen, hätte ich es riskiert völlig blind in Chäos;Child einzutauchen. Woran es sich meiner Meinung nach gespießt hat ist doch der Umstand, dass bis auf eine einzige Person, kein Charakter aus Chäos;Head in Chäos;Child vorkommt. C;C erzählt weitgehend seine eigene Geschichte und baut lediglich thematisch auf dem Vorgänger auf. Es ist die gleiche Welt, aber Jahre später und ohne irgendwelchen Antagonisten neues Leben einzuhauchen. Die Protagonisten sind sich ähnlich, aber doch zwei ganz unterschiedliche Persönlichkeiten. Die Verbrechen passieren zwar an den Jahrestagen, sind aber auch fast gänzlich anders. Einzig gewisse Dinge aus dem Worldbuilding von C;H wären in C;C ganz nützlich zu wissen gewesen, diese Aspekte der Story werden im Anime jedoch nur gestriffen und spielen auch in der Visual Novel keine absolut massive Rolle. Man braucht C;H nicht, um C;C folgen zu können, aber es hilft.
Da ich mit Chäos;Child begonnen habe, sollte ich wohl auch beginnen die Story des Sequels zu erklären, bevor ich mich dem Original widme. C;C spielt einige Jahre nach einem großen Erdbeben, das den Tokyoter Stadtteil Shibuya seinerzeit verwüstet und so einige Kinder wie den Protagonisten Takuru Miyashiro zu Waisen gemacht hat. Im Vergleich ist Takuru Miyashiro meiner Meinung nach normaler und etwas zugänglicher als sein "Vorgänger", man könnte ihn vielleicht etwas reifer und erwachsener nennen, nicht ganz so von seinen Hormonen oder Emotionen getrieben. So gesehen ist Takuru aber auch eine Ecke weniger amüsant zu beobachten. Alles in allem ist C;C unterm Strich vielleicht die deprimierendere Geschichte, auch wenn es nachwievor klare und erkennbare Lichtblicke gibt. Takuru ist mit einer neuen Welle von New Generation Madness-Morden konfrontiert, aber er ist zunächst weniger Opfer, sondern Ermittler, denn anders als der echte Hikikomori Takumi ist er Präsident des Journalismus-Klubs seiner Schule und hat schon zu Beginn diesen Klub um sich versammelt.
Die Di-Schwerter kommen auch in C;C vor und wirken sich sehr einschneidend auf die Story auf, aber sie sind diesmal von nicht ganz so großer Bedeutung. C;C bietet etwas mehr psychologischen Horror und auch den einen oder anderen Schockmoment. Takuru und Takumi könnten sich meiner Meinung nach nicht unähnlicher sein. Takuru ist bei weitem nicht so einfach gestrickt wie sein Vorgänger und er hat als Waisenkind, das die letzten Jahre in einer Art betreuten Wohnung mit anderen Waisen und einem Arzt als Ziehvater gelebt, auch weit mehr persönliche Probleme als der in Chäos;Head fast gänzlich isolierte Takumi. Was ich beiden Geschichten jedoch hoch anrechne, ist der emotionale Impact, den sie zumindest bei mir in bestimmten Szenen erreicht haben. Ohne diese konkret zu spoilern, es geht in diesen Szenen um Verluste - und das in einer Welt wo es zeitweise möglich scheint, dass der Protagonist wie in einem Anime einfach den höchsten Gang einlegt und diese einfach rückgängig macht - genau das passiert nämlich nicht, denn die Chäos;World hat ein ganz besonderes Feature, das auch auf der Meta-Ebene wirkt - Delusions. Verzerrungen der Wirklichkeit und der eigenen Wahrnehmung, aus denen man unter Umständen echte Konsequenzen hervorbringen kann - damit spielen C;C und C;H nicht nur, wenn man sich zwischen "positiven" und "negativen" oder gar keinen tagträumerischen Illusionsmomenten (den "delusions") entscheiden darf, die ganze Thematik lässt einen auch selbst an seiner Wahrnehmung zweifeln, was sich für ein Murder-Mystery-Szenario ja als durchaus passend erweist. Das ganze hat jedoch keinen geraden Cluedo-Spin bei dem am Ende der Butler als Mörder enttarnt wird, weil es halt doch etwas "abstruser" oder japanischer (je nach Sichtweise) ist. Wenn man Anime & Co überhaupt nichts abgewinnen kann und völlig verstört von diesen ist, wird man an der Chäos;World auch keine Freude finden.
Chäos;Head ist meiner Meinung nach der animehaftere Part der Duologie. Takumi Nishijou ist ein 17jähriger Power Gamer, der in einem zur Wohnung umgewandelten Container auf dem Dach eines Gebäudes lebt, das seinem Vater gehören dürfte. Nishijou ist zumindest seiner Wahrnehmung nach der Top-Spieler seines Lieblings-MMOs und er kann scheinbar sogar davon leben, Items gegen Echtgeld zu verkaufen. Fast meint man, er könnte doch als Influencer Karriere machen. Nishijou leidet jedoch unter einem sehr japanischen Klischee, er gibt vor nur an 2D-Frauen interessiert zu sein und verehrt zudem die fiktive Anime-waifu Seira Orgel. Seira-tan ist Nishijous Ein und Alles, was auch seine Besessenheit mit ihren Sammelfiguren demonstriert. Und natürlich hat das ganze eine sexuelle Komponente, was ich als sehr ehrliche Darstellung eines von einer Libido überwältigten Teenagers bezeichnen würde. Positive "delusions" innerhalb der Chäos;World-Reihe haben gerade in C;H oft eine sexuelle Bedeutung. Zwischen den Polen von sexuellen und angsterfüllten Gedanken kann man aber immer auch den neutralen Weg gehen, was allerdings nach dem ersten Playthrough durchaus Konsequenzen hat. Gameplaytechnisch ist der erste Playthrough quasi restricted. Man steuert auf nur eines der möglichen Enden zu und Entscheidungen im Sinne der Wahl von delusions führen zu keinen signifikant anderen Plot-Verläufen. Nach dem ersten Playthrough fallen diese Einschränkungen jedoch weg und es stehen einem (fast) alle Enden und vor allem alle Charakter-Routen aka Subplots mit den verschiedenen Nebencharakteren offen.
Wie bereits einmal erwähnt, meiner Ansicht nach ist C;H noch etwas simpler gestrickt. Der Protagonist ist sozusagen ein jugendlicher Perversling, die Damen die sich um ihm scharen, wirken zeitweise wie ein Harem (auch wenn er im Vanilla Playthrough dann doch zu keiner findet und ihm der Weg zu manchen Romance-Optionen vom Plot verbaut wird) und die Di-Schwerter wirken schon sehr animehaft. C;H ist gerade deshalb aber vielleicht etwas spaßiger, weil es eben nicht ganz so ernst und persönlich wirkt wie C;C. Die große Stärke von Chäos;Head war für mich jedoch die Frage, wie weit man der Wahrnehmung Nishijous trauen kann. Seine "Visionen" oder "delusions" machen es bis zur Auflösung mancher Rätsel fast unmöglich ihn nicht zu verdächtigen. Gleichzeitig passt Nishijou als zurückgezogen lebender Einzelgänger auch perfekt zur Vorstellung, von einem unter Realitätsverlust leidenden Psychokiller. Die Polizeiermittlungen sind aber noch einmal eine andere Sache und Nishijous Paranoia ist radikaler als mancher Ermittlerinstinkt.
Im Gegensatz zum nach Anerkennung strebenden Takuru ist Nishijou auch kein typischer Helden-Charakter. Im Zweifelsfall möchte er einfach in seinem Container weiter durch Empire Sweeper Online (ein fiktives ESO) zocken, statt die Außenwelt betreten zu müssen. Jemand, der ohnehin schon seinen Kontakt mit der "realen Welt" auf das notwendigste reduziert hat, wird dann auch noch in eine surreale Mordserie hinein gezogen und verliert den Überblick was Realität und Fiktion ist, dabei will er doch nur in Ruhe gelassen werden.
Abschließend fällt es mir schwer, mich zu einer Wertung durchzuringen, welcher der beiden Teile "besser" sein soll. Von allen Chäos;World-Charakteren fasziniert mich Serika Onoes Charakter-Arc (C;C) am meisten, ich sehe C;C aber auch etwas mehr vollgestopft mit Wendungen, sodass es im Endeffekt weniger echte Höhen- und Tiefpunkte gibt. C;H hat mehr erkennbare Höhepunkte und Phasen in denen man auch wieder mal Luft schnappen kann, aber genau deshalb hat es vielleicht auch Szenen die sich mir als ikonisch eingebrannt haben (und das obwohl ich das Spiel erst Monate nach C;C im Herbst 2022 gespielt habe). Nishijou (C;H) wirkt einfacher gestrickt und ist daher für mich vielleicht auch etwas besser begreifbar, während Takumi (C;C) ambitionierter ist und sich daher etwas schwieriger verstehen lässt. Ich würde auch argumentieren, dass die Auflösung der zentralen Rätsel in C;H etwas simpler gehalten wurde, während sich diese in C;C etwas zäher und für den Protagonisten schwieriger gestalten. C;H ist eine eher grandiose Geschichte, während C;C sich etwas bescheidener Nachahmungstätern und persönlichen Ambitionen widmet. Dieses Gefälle reicht wirklich von einer "Rettung der Welt" bis zur "Rettung einer Person".